Korrekturfaktor bei 5G adaptiven Antennen bewilligungspflichtig
Schweizer Bundesgerichtsurteil verpflichtet Mobilfunklobby zu Baubewilligungen
Drei Jahre bestand Rechtsunsicherheit. Es wurden in dieser Zeit zahlreiche bewilligte adaptive Antennen aufgestellt. Dann entschied der Bundesrat im Dezember 2022: Adaptive 5G-Antennen dürfen regelmässig stärker strahlen – sogar ohne erneute Baubewilligung oder Einspruchsmöglichkeit.
Die vielen Überschreitungen der Anlagegrenzwerte lösten Widerstand in der Bevölkerung aus, was zu tausenden von Einsprachen führte. Menschen ohne Einspruchsmöglichkeit fühlten sich übergangen. Der Trick, mit dem die Leistungserhöhung verschleiert wird, heisst in der Fachsprache „Korrekturfaktor“. Er ist der Grund für tausende Einsprachen. Das Bundesgericht erklärt nun den Korrekturfaktor als baubewilligungspflichtig.
Die Telekomfirmen müssen künftig vermehrt Baugesuche einreichen.
Grössere Leistung adaptiver Antennen als angegeben
Bis 2019 mussten alle Antennen jederzeit die Anlagegrenzwerte und die maximal bewilligte Abstrahlung (Sendeleistung in W ERP) einhalten. Ab 2021/2022 gab es in der NISV für adaptive Antennen neue Vorschriften und eine neue Vollzugsempfehlung. Diese legten gemäss dem Online-Portal «Schutz vor Strahlung» fest: Die von einer adaptiven Antenne abgegebene Strahlung darf in den Unterlagen zum Baugesuch „korrigierte“ – und damit unwahre – Angaben zur abgestrahlten Strahlung enthalten. Es darf eine grössere Leistung abgestrahlt werden, als angegeben wird. Das ist die Anwendung des Korrekturfaktors.
Grenzwertüberschreitung in Wohnungen
In der Praxis wird im Baugesuch für eine adaptive Antenne beispielsweise eine Sendeleistung von 200 W ERP vermerkt. Diese Antenne strahlt aber zu Spitzenzeiten unter Anwendung des Korrekturfaktors mit einer Leistung von 1‘800 W ERP. In einigen Wohnungen rund um die Antenne kommt es dadurch zu Grenzwertüberschreitungen. Im extremsten Fall sind zu Spitzenzeiten 16 V/m anstelle der erlaubten 5 V/m möglich, denn die Sendeleistung – und damit auch der Grenzwert – müssen nur noch im Durchschnitt eingehalten werden.
Urteil im Fall Wil: Bundesgericht pfeift den Bundesrat zurück
Zahlreiche adaptive Antennen wurden ohne Korrekturfaktor bewilligt, mit dem Versprechen der Behörden, dass die Grenzwerte jederzeit eingehalten würden. Dennoch wurde bei diesen Antennen einige Zeit später die Anwendung des Korrekturfaktors zugelassen und sie konnten die Grenzwerte überschreiten.
Der Bundesrat beschloss nämlich unter Ziffer 62 Absatz 5bis, dass die Aufschaltung des Korrekturfaktors keine Änderung sei. Schutz Vor Strahlung schreibt weiter, das Bundesgericht sehe dies in seinem Urteil vom 14. April 2024 anders: „Die Anwendung des Korrekturfaktors auf bisher nach dem ‚Worst-Case-Szenario‘ bewilligte adaptive Antennen führt zu Leistungsspitzen, die deutlich (je nach Korrekturfaktor bis zu 10 Mal) über der bisherigen maximalen Sendeleistung liegen können.“ Diese Leistungsspitzen könnten durch Anwohner nicht erkannt werden, weil Strahlung unsichtbar sei. Daher sei diese Änderung baubewilligungspflichtig.
Folge des Bundesgerichtsentscheids zu adaptiven Antennen
Die Folge dieses Entscheids ist nun, dass für rund 3‘000 Antennen, die den Korrekturfaktor ohne Baubewilligung anwenden, ein neues Baugesuch eingereicht werden muss. Falls kein Baugesuch eintrifft, müssen die adaptiven Antennen gedrosselt oder – falls der Umbau auf adaptive Antennen ohne Baubewilligung erfolgte – ganz abgeschaltet und rückgebaut werden. Der Widerstand gegen die adaptiven Antennen und insbesondere den Korrekturfaktor ist riesig. Ständig sind rund 3‘000 Baubewilligungsverfahren blockiert, da fast gegen jede Umrüstung und jeden Neubau Einsprache erhoben wird. Bis Ende Jahr 2024 könnten nochmal maximal 3‘000 weitere Baugesuche hinzukommen. Der Anteil der Bevölkerung, der sich durch die 5G-Strahlung gestört fühlt, stieg schon im Jahr 2023 auf 23 % und über 60 % erachtet gemäss dem Bundesamt für Statistik Mobilfunkstrahlung als riskant.
Weshalb sollen adaptive Antennen stärker strahlen dürfen?
Der Grund für diesen immensen Widerstand ist einfach: Niemand kann sich erklären, warum adaptive Antennen, die gemäss den Behörden effizienter sind und mehr Daten mit weniger Strahlung übertragen können, stärker als alle anderen Antennentypen strahlen dürfen. Die Behörden geben an, adaptive Antennen gäben in bestimmte Richtungen weniger Strahlung ab als in andere und führten insgesamt zu weniger Strahlung. Dies sei der Grund, weshalb die Antennen kurzzeitig stärker strahlen dürften. Diese Erklärung ist für die Anwohner nicht nachvollziehbar. Warum sollten die Anwohner stärker belastet werden dürfen, nur weil Orte, wo sich niemand aufhält, schwächer belastet sind?
Instransparente Standort-Datenblätter bei Baugesuch
Ein grosses Ärgernis für die Anwohnerinnen und Anwohner sind die intransparenten Standort-Datenblätter in den Baugesuchsunterlagen. Man kann darin nicht erkennen, wie stark die Strahlung zu Spitzenzeiten ist. Einige Werte sind Mittelwerte, andere sind Spitzenwerte, und diese beiden werden quadratisch summiert. Das Standort-Datenblatt von adaptiven Antennen ist daher auch aus mathematischer Sicht höchst unklar. Zudem ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Einsprache-Radius bei unterschiedlichen Korrekturfaktoren immer derselbe ist. Bisher hing er von der Spitzenleistung ab: Je grösser die Leistung der Antenne, umso grösser der Einsprache-Radius. Mit der Einführung des Korrekturfaktors wurde auch diese Ungerechtigkeit neu geschaffen.
Betroffene fordern Abschaffung des Korrekturfaktors
Der Korrekturfaktor muss vollständig abgeschafft werden, schreibt Schutz vor Strahlung. Es gilt, das Chaos von Grund auf zu beseitigen. Nur so kehrt wieder Ruhe in die Situation ein. Jede weitere Änderung von Gesetzen, Verordnungen, Vollzugsempfehlungen oder Berechnungsmethoden führt nur zu einer weiteren Verhärtung der Fronten, Unzufriedenheit bei allen Beteiligten und schliesslich zu grossem Vertrauensverlust. Niemand mehr wird noch den Überblick haben, und die Gerichte leiden noch mehr unter der Menge der Rechtsverfahren und ständig ändernden Vorschriften.
Bundesrat soll Rechtssicherheit wiederherstellen
Weitere Bundesgerichtsentscheide mit rückwirkenden Auswirkungen wären zu erwarten. Dies ist zu vermeiden. Der Bundesrat muss die Rechtssicherheit wiederherstellen: Das Schutzniveau von 2019 soll wiederhergestellt werden. Anstatt 5G voranzutreiben, soll die Schweiz vollständig mit strahlungsfreier Glasfaser erschlossen und so das Mobilfunknetz entlastet werden.
Auch die BPUK – das sind Vertreter der Kantonsregierungen – forderte nach der Einführung der Korrekturfaktoren eine NISV-Revision: „Dabei soll nicht die Technologie, sondern der Schutz der Bevölkerung in den Vordergrund gestellt werden.“ Das ist auch das Anliegen von Konsumentenorganisationen.
Künftig muss ordentliches Baugesuch eingereicht werden
Gemäss einem aktuellen Gerichtsurteil muss künftig zur Aktivierung des Korrekturfaktors bei adaptiven Antennen ein ordentliches Baugesuch eingereicht werden. Obwohl sämtliche Vorgaben jederzeit eingehalten wurden, sind nun Tausende bestehender Anlagen von einem juristischen Formfehler betroffen. Die Mobilfunkversorgung mit einer effizienten und zeitgemässen Technologie wird in der Schweiz weiter stark verzögert.
Mobilfunk-Lobby: Modernisierung der Datennetze wichtig
Jede Mobilfunk-Antenne muss kontinuierlich auf den neuesten Stand gebracht werden, denn die technologische Entwicklung bei der Telekommunikation läuft rasend schnell. Eine fortlaufende Modernisierung der Datennetze ist unabdingbar, um einerseits die zunehmenden Datenmengen weiterhin einwandfrei zu bewältigen und andererseits die Effizienz und Zuverlässigkeit dieser kritischen Basisinfrastruktur sicherzustellen. Für den aktuellen 5G-Standard kommen moderne adaptive Antennen zum Einsatz. Diese sind im Gegensatz zu älteren Antennen (z.B. 3G und 4G) in der Lage, die Signale gezielt in Richtung der einzelnen Endgeräte zu senden. Dies reduziert den Energieverbrauch stark und vermindert die Strahlenbelastung für Nichtnutzer und Nichtnutzerinnen. Weil diese weiterentwickelten Antennen mit den bisherigen Bewertungsmethoden benachteiligt würden, kann zum Ausgleich ein Korrekturfaktor angewendet werden. Alle Vorteile der adaptiven Antennen kommen nur mit dem Korrekturfaktor voll zum Tragen. Der Korrekturfaktor wird per Software aktiviert.
Bisher gab es laut den Empfehlungen der Schweizerischen Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK) der Kantone zwei Optionen, um die Modernisierung an bestehenden Standorten der Antennen voranzutreiben:
- Option 1 ist die weniger fortschrittliche Option, und verlangt bei einer Modernisierung, bei der eine adaptive Antenne zum Einsatz kommt, ein volles Baugesuch.
- Option 2 geht darüber hinaus und ermöglicht den Ausbau der Netze mit adaptiven Antennen unter Einhaltung des Vorsorgeprinzips ohne ein erneutes, ordentliches Baubewilligungsverfahren. Das ist ein sogenanntes Bagatell- resp. Meldeverfahren.
Nun soll diese etablierte Praxis aber nicht mehr gelten: Laut einem aktuellen Bundesgerichtsurteil war die Modernisierung dreier Antennenstandorte in Wil, Kanton St. Gallen, nicht rechtens, weil das rechtliche Gehör nicht ausreichend gewährt worden sei, wenn kein ordentliches Baubewilligungsverfahren durchlaufen wurde. Das Bundesgericht hält im jüngsten Entscheid fest, dass die erstmalige Anwendung eines Korrekturfaktors bei adaptiven Antennen ein solches erfordere.
Korrekturfaktor immer eingehalten?
Der Branchenverband asut weist darauf hin, dass sich die Mobilfunkbetreiber bei der Anwendung des Korrekturfaktors stets an sämtliche geltenden Vorgaben des Bundes und der Kantone gehalten haben. Demnach galt laut asut die Anwendung des Korrekturfaktors bei adaptiven Antennen nicht als Änderung einer Anlage. Die Mobilfunkbetreiber waren lediglich verpflichtet, der zuständigen Behörde aus Gründen der Nachvollziehbarkeit ein aktualisiertes Standortdatenblatt einzureichen. Dies hat der Mobilfunkbetreiber im beurteilten Fall auch getan.
Ein Entscheid gegen den politischen Willen
Der Entscheid des Bundesgerichtes richtet sich laut den Mobilfunkanbietern nicht gegen das Vorgehen der Mobilfunkbetreiber. Vielmehr kläre das Bundesgericht juristisch die Frage, ob die Bestimmungen in der NISV (Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung) und die Vorgaben in der Vollzugsempfehlung zur NISV ausreichen, um den Korrekturfaktor ohne die Durchführung eines (erneuten) ordentlichen Bewilligungsverfahrens anzuwenden. Der Entscheid des Bundesgerichtes wird zu einer weiteren Flut an Baubewilligungsverfahren, einer Verschärfung des bereits bestehenden Verfahrensstaus und damit zu weiteren Verzögerungen bei der Modernisierung der Schweizer Mobilfunknetze führen, entgegen dem Willen des Parlaments.